Ich bin ein unlogischer, mathesschwacher Geist, der sich abkämpft mit Schach und seinen Tücken. Aber ich liebe das Spiel, seine tiefgreifenden Prinzipien faszinieren mich und ich bilde mir ein, Lektionen für’s Leben zu lernen.
Statt um sich zu schlagen, in den Weg treten: Vom Charakter der Verteidigung
Das Bild zeigt die sogenannte königsindische Verteidigung von Schwarz (hier vom besten deutschen Schacherklärer The Big Greek erläutert):
Auch schachschwache Laien erkennen, dass Weiß im Zentrum mit drei Bauern vorgerückt ist. Spielte ich mit schwarz, wäre ich sehr nervös (ich zittere sowieso bei jedem Zug des Gegners). Profis aber wissen, dass die Partie ausgeglichen ist. Es macht für Schwarz Sinn, mit dem D-Bauern ein Feld vorzurücken, wie im Bild angezeigt. Nicht zwei, sondern ein Feld: Bauer d6.
Ich erspare ich mir eingehende Spiel-Analysen, das können andere besser. Auf einer gewissen nicht-schachlichen Ebene ist der Zug unglaublich. Wie er ausschaut! Da tritt ein Bauer einfach einer dreifachen Übermacht entgegen. Darüber könnte ich endlos sinnieren:
- Verteidigung ist nicht leidenschaftliches um sich schlagen, sondern rationales Kalkül.
- Verteidigen ist oft minimalistisch und deswegen effektiv. Man muss Sand an der richtigen Stelle ins Getriebe streuen.
- Verteidigen hat etwas Belebendes, weil wehrhaftes.
- Defensive ist rationales, strukturiertes Vorgehen, daher stiftet es Sinn und Orientierung. Weg und Ziel sind engen, klaren Vorgaben unterworfen.
- Verteidigung ist nötig, zulässig und das Gegenteil von feige.
Entgegentreten, in den Weg stellen, das Ziel verbauen, all das ist Verteidigen und damit eine notwendige Technik für das tägliche Leben generell und das meine ich gar nicht im militärischen Sinne. Psychische Labilität etwa entsteht heutzutage meines Erachtens, weil wir in übergriffigen Zeiten vergessen, Grenzen zu setzen. Wir werden dazu gedrängt uns zu optimieren und anzugreifen, schließlich lebt man ja nur einmal – geht es nicht noch etwas besser? Grenzen setzen ist dagegen unbeliebt und verrufen. Wer will schon eine Mahnerin (und damit Spießer) sein? Wer bremst, verliert und verpasst alles, im englischen gibt es eine Abkürzung dafür, “Fomo”, fear of missing out. Genau da setzt die königsindische Verteidigung an: Nein, weniger ist mehr, ruft sie uns zu, behaupte deine Interessen.
Das Gesunden in der Verteidigung
Richtiges Verteidigen kann ungeheuer beruhigen. Das Konzept an sich ist gesund, weil es uns verortet, erdet. Angreifen dagegen kann krankhaft den Boden unter den Füßen weg ziehen. Geschichten von Leuten, die sich verrannt haben, kann man jeden Tag im Netz nachlesen.
Dieser No-Bullshit-Move des D-Bauern, der nicht sinnlos nach vorne schießt, sondern sich kalkuliert in den Weg stellt, zeigt welch zutiefst sinnstiftendes Konzept Verteidigen ist. Er bringt die Erkenntnis, dass es zulässig – und sogar notwendig – ist, sich selbst zu schützen. Wenn wir jemandem etwas entgegnen, bedeutet das auf Augenhöhe mit dem Gegenüber zu sein, also mittendrin und nicht am Rand: Reine, pure Selbstermächtigung, wir sind im Spiel. In diesem Sinne hat Schach eine therapeutische , mindestens eine psycho-hygienische, auf jeden Fall aber eine didaktische Wirkung.
Hat der einen Schatten?
Profis denken: “Was liest der aus dieser einfachen, hunderttausendmal gespielten Stellung raus? Der hat doch einen Schatten, es geht hier nicht um Gut oder Böse, sondern was Weiß als nächstes zieht!”
Ich verzeihe den Profis. Sie brauchen ihre Gehirnzellen für geiles Schach. Ich dagegen habe Zeit für solche Grübeleien, ich verliere ja auch die nächste Partie. Aber es gibt Studien, die zeigen, wie Kinder mit Schachunterricht in der Schule besser lernen. Das wundert mich nicht, es liegt auf der Hand, äh, auf dem Schachbrett. Man muss halt hinschauen.